Rückführung eines einjährigen Kindes nach Israel
Der formelle Kriegszustand Israels alleine steht der Rückführung eines von seiner Mutter nach Deutschland entführten (hier: einjährigen) Kindes nicht entgegen.
In dem hier vom Oberlandesgericht Stuttgart entschiedenen Fall stritten die verheirateten Eltern um die Rückführung eines 2023 in Haifa geborenen Mädchens nach Israel. Die Eltern tragen nach dem Recht des Staates Israel das gemeinsame Sorgerecht. Im Februar 2024 flog die Mutter ohne Kenntnis des Vaters mit der gemeinsamen Tochter nach Deutschland. Nachdem der Vater entdeckte, dass die persönlichen Gegenstände und die Kleidung der Tochter und der Mutter fehlten, konnte dieser durch eigene Recherche und Einschaltung der Kriminalpolizei noch am selben Tag den aktuellen Aufenthaltsort seiner Tochter und der Mutter in Reutlingen ermitteln.
Daraufhin stellte er am folgenden Tag bei der Zentralen Behörde in Israel einen Rückführungsantrag nach den Bestimmungen des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung vom 25.10.1980 (HKÜ). Die Mutter ist der Ansicht, dass der Rückführung des Kindes nach Israel aufgrund des Krieges, einer bestehenden Gefahr von Massakern und Attentaten und einer Tendenz zur weiteren Eskalation des Nahost-Konflikts nach einem Angriff auf das iranische Botschaftsgelände in Syrien ein zwingendes Rückführungshindernis entgegenstehe. Für das Kind bestehe die schwerwiegende Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens.
Das erstinstanzlich hiermit befasste Amtsgericht Stuttgart hat die Mutter verpflichtet, das Kind binnen zwei Wochen ab Rechtskraft der Entscheidung nach Israel zurückzuführen1. Die dagegen gerichtete Beschwerde der Mutter zum Oberlandesgericht Stuttgart hatte keinen Erfolg; das Oberlandesgericht hat die Beschwerde der Mutter gegen den Beschluss des Amtsgerichts Stuttgart zurückgewiesen:
Nach der Entscheidung des Oberlandesgerichts Stuttgart liegen die Voraussetzungen für eine Rückführungsanordnung nach § 12 Absatz 1 HKÜ vor. Die Mutter hat die gemeinsame Tochter am 06.02.2024 widerrechtlich nach Deutschland verbracht. Denn die Eltern üben das Sorgerecht gemeinsam aus und der Vater hat der Verbringung nach Deutschland nicht zugestimmt.
Zwar ist das Gericht des ersuchten Staates gemäß Art. 13 Abs. 1 lit. b)) HKÜ dann nicht verpflichtet, eine Rückführung anzuordnen, wenn die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist. Diese Bestimmung ist aber restriktiv auszulegen, da der Zweck des HKÜ darin liegt, eine zügige Sorgerechtsentscheidung durch die Gerichte des Staates zu ermöglichen, in dem das Kind sich vor der Entführung aufgehalten hat. Erforderlich ist daher eine besonders erhebliche, ganz konkrete und aktuelle Gefahr für das Kind.
Dass sich aus der derzeitigen Sicherheitslage in Israel eine schwerwiegende Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für die gemeinsame Tochter ergeben würde, hat die insoweit darlegungs- und beweisbelastete Mutter nicht nachgewiesen.
Die derzeitige Reisewarnung des Auswärtigen Amts für Israel, nach der sich Israel formell im Kriegszustand befindet, führt für sich genommen noch nicht zur Annahme einer schwerwiegenden Gefahr. Vielmehr hat für die Gefahrenprognose eine Gesamtbetrachtung zu erfolgen, in die auch weitere Gesichtspunkte einzubeziehen sind. Danach kann das Vorliegen einer konkreten Gefährdung nicht festgestellt werden.
Aus dem National Emergency Portal des israelischen Home Front Command ergibt sich, dass insbesondere in den Bereichen Tel Aviv, Haifa, Ashdod-Gimmel und Netanya – West Versammlungen und Gottesdienste, Bildungsaktivitäten und Arbeitsstätten ohne Einschränkungen abgehalten bzw. genutzt werden können; unter den vier Kategorien dieses Warn- und Informationssystems besteht in diesen und weiteren Bereichen im Zentrum von Israel die niedrigste Stufe „green – full activity“.
Zwar werden nach dem Anschlag der Terrororganisation Hamas vom 07.10.2023 und den am 14.04.2024 abgefeuerten mehreren hundert Drohnen, Marschflugkörpern und ballistischen Raketen auch weiterhin Angriffe auf israelisches Gebiet sowie Anschläge in Israel verübt. Dass in der Nacht auf den 14.04.2024 die weit überwiegende Zahl der Flugkörper durch ein als „iron dome“ bezeichnetes Abwehrsystem noch außerhalb des israelischen Luftraums abgefangen wurden, belegt aber die Leistungsfähigkeit des Abwehrsystems und hat entscheidende Auswirkungen auf die Sicherheit der in Israel lebenden Menschen.
Soweit die Angriffe das subjektive Sicherheitsgefühl der in Israel lebenden Personen beeinträchtigen und zu einer erhöhten Wachsamkeit im Alltag sowie zu Vorsichtsmaßnahmen Anlass geben, ist dies im vorliegenden Zusammenhang der Prüfung einer objektiven Gefährdung für das zurückzuführende Kind zwar nicht völlig unbedeutend, aber letztlich nicht ausschlaggebend. Dabei kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Sicherheitslage im Staat Israel schon seit langer Zeit angespannt ist und sich beide Elternteile im Jahr 2020 für einen Aufenthalt in Israel entschieden und das Risiko, dort zu leben, als vertretbar angesehen haben. Die vorgenannten einzelnen Anschläge müssen im Ergebnis als punktuelle Vorkommnisse und kriminelle Handlungen einzelner Personen angesehen werden. Dies führt in der Gesamtwürdigung zu der Bewertung, dass es sich dabei nicht um eine konkrete, sondern lediglich um eine abstrakte Gefahr handelt.
Das OLG Stuttgart bewertet die derzeitige Sicherheitslage in Israel damit anders, als diejenige in der Ukraine, für die es zuvor die Rückführung eines entführten zweijährigen Kindes wegen konkreter Lebensgefahr abgelehnt hatte2.
Oberlandesgericht Stuttgart, Beschluss vom 23. Mai 2024 – 17 UF 71/24